Wie funktioniert ein Gebiss eigentlich?
Ein Gebiss ins Pferdemaul zu schieben ist eine so festgefahrene Gewohnheit, dass man sich kaum noch dessen bewusst ist, dass dieses Metallstück alles andere als harmlos sein kann. Man findet viele Artikel, durch die beim Reiter Schuldgefühle ausgelöst werden sollen und in denen die Meinung vertreten wird, ein Gebiss sei in jedem Fall schlecht für das Pferd. Artikel, in denen erklärt wird, wie ein Gebiss überhaupt funktioniert, damit man das passende für sein Pferd auswählen kann, findet man hingegen nur wenige.
In diesem Artikel können wir leider nicht auf die gebisslose Zäumung eingehen, da dieses Thema so umfangreich ist, dass man darüber einen eigenen Artikel schreiben könnte. Vielleicht also beim nächsten Mal. Die Fragen, auf die wir heute eingehen möchten, sind: Auf welche Art und Weise funktionieren die verschiedenen Gebissformen? Welches Gebiss ist für mein Pferd am besten geeignet? Woher weiß ich, ob mein aktuelles Gebiss meinem Pferd überhaupt passt?
Vielen Dank an Géraldine Vandevenne, bitfitteuse, die diesen Artikel Probe gelesen und korrigiert hat.
Zum gleichen Thema: Welche Funktion hat der Sattel?
Table des matières
- Auf welche anatomischen Strukturen wirkt das Gebiss?
- Wie wähle ich die richtige Größe des Mundstücks aus?
- Wie funktioniert das einfache Gebiss?
- Warum sind die Mundstücke so eigenartig geformt?
- Und was hat es mit der Form der Trensenringe auf sich?
- Und die komplexeren Gebisse, wie das Pessoa oder das Pelham?
- Was bewirken die verschiedenen Materialien?
- Fazit
Auf welche anatomischen Strukturen wirkt das Gebiss?
Das Gebiss, in der Form, in der wir es verwenden, wirkt auf die Kinnlade. Dabei handelt es sich um die Zahnlücke zwischen den Schneide- und Backenzähnen. Das Gebiss wirkt vor allem auf die folgenden 3 Bereiche, die alle äußerst sensibel sind:
- Die Zunge: Sie besteht aus Muskeln und ist sensibler gegenüber „Quetschungen” als Druck. Ihre Größe variiert je nach Pferd.
- Die Maulwinkel: Sie sind noch etwas sensibler.
- Die Kinnlade: Es handelt sich dabei um eine Schleimhaut an der Zahnlücke zwischen den unteren Schneide- und Backenzähnen, die äußerst sensibel ist. 😨
- Der Unterkiefernerv (Nervus mandibularis): Er ist extrem sensibel. Trägt das Pferd eine Kinnkette, wird er zwischen ihr und dem Kieferknochen „eingeklemmt”. Daher wird oft ein Schutz aus Leder angebracht (Kautschuk verbiegt sich schnell und ist oft zu dick). Dieser soll Verletzungen vorbeugen, auch wenn der Druck auf den Nerv durch die Verwendung eines anderen Materials bestehen bleibt. Aber dazu kommen wir später.
Man kann also die Schärfe eines Gebisses beurteilen, ohne es jemals benutzt zu haben, einfach indem man sich die unterschiedlichen Druckstellen der verschiedenen Bestandteile eines Gebisses auf die Körperteile des Pferdes vor Augen führt. Dabei solltest du nicht vergessen: Pferde sind im Mund genauso sensibel wie wir!
Wie wähle ich die richtige Größe des Mundstücks aus?
Das ist eine gute Frage, die man sich leider nicht oft genug stellt. Man macht sich viele Gedanken über den gewünschten Effekt der verschiedenen Gebisse, aber es ist mindestens genauso wichtig, dass das Mundstück richtig auf das Pferdemaul angepasst ist. Auf diese 3 Punkte solltest du achten:
- Die Länge des Mundstücks (in mm) muss an den jeweiligen Trensenring angepasst sein. Gebisse mit „losen” Trensenringen sollten auf jeder Seite etwa 5 mm aus dem Maul herausragen (ansonsten besteht die Gefahr, dass die Haut eingeklemmt wird). Gebisse mit „festem” Trensenring müssen nur 2 mm📏 auf jeder Seite aus dem Maul herausragen.
- Die Breite des Mundstücks muss an das Maul angepasst sein. Um dies zu überprüfen, kannst du die Lippen deines Pferdes bei geschlossenem Mund auf Höhe der Kinnlade öffnen. Das Mundstück sollte nicht breiter sein als diese Zahnlücke, sonst kann das Pferd sein Maul nicht schließen. Die Breite des Mundstücks sollte außerdem auf die Dicke der Zunge und somit an den zur Verfügung stehenden Platz im Maul angepasst sein.
- Die Höhe des Mundstücks (diese wird durch die Anpassung des Backenstücks verändert) muss so angepasst sein, dass es nicht die Zähne berührt (weder Schneide- noch Backenzähne). Je nach Größe des Pferdemauls sollten unterschiedlich viele Falten im Maulwinkel entstehen. In der Regel sollten es 2 Falten sein. Es gibt jedoch auch Pferde, bei denen sich gar keine Falte oder bei denen sich 4 Falten bilden, und das Gebiss trotzdem passt.
Wie funktioniert das einfache Gebiss?
Laut Definition wirkt ein einfaches Gebiss (mit einem Zügelring auf jeder Seite und ohne Kinnkette) in erster Linie auf die Maulwinkel. Aber Vorsicht, das hängt natürlich vom Winkel zwischen dem Hals und dem Kopf des Pferdes ab, bzw. dem Winkel zwischen dem Pferdemaul und deinen Händen.
Je mehr das Maul und deine Hände auf einer Linie sind (tiefer Hals oder hohe Hände), desto stärker ist die Wirkung auf die Maulwinkel. Bildet das Maul (bzw. die gedachte Linie, s.u.) einen rechten Winkel mit den Zügeln (das Pferd „verkriecht” sich oder die Position der Hände ist sehr tief), dann wirkt das Gebiss ausschließlich auf die Kinnlade.
Warum sind die Mundstücke so eigenartig geformt?
Es gibt tatsächlich verschiedene Formen für Mundstücke. Wie oft es „gebrochen” ist, ist hier jedoch das entscheidende Kriterium.
Stangengebiss
Stangengebisse wirken deutlich mehr auf die Zunge, dafür weniger auf die Kinnlade. Da diese Gebisse keine einseitige Hilfengebung ermöglichen, ist diese nicht allzu präzise. Dabei sollte man allerdings beachten, dass nicht alle Pferde den stetigen Druck auf der Zunge mögen. Dieser Druck auf die Zunge hat außerdem große Auswirkungen auf die Bewegung des Pferdes. Die Zunge ist nämlich mit dem Zungenbein (os hyoideum) verbunden, von dem aus Muskeln in Richtung des Sternums führen und das außerdem mit dem Schädel verbunden ist.
Gebrochenes Gebiss
Das gebrochene Gebiss (einfach oder doppelt gebrochen) knickt sich bei einem Zügelzug in der Mitte. Je nach Form des Mundstücks und der Position der Hände im Verhältnis zum Pferdemaul kann es auf den Gaumen des Pferdes drücken. Die Wirkung auf die Kinnlade ist dabei unterschiedlich.
Einfach gebrochene Gebisse können je nach Position der Hand im Verhältnis zum Maul den sog. „Nussknackereffekt” haben. Diese Art Gebiss übt Druck auf die Kinnlade des Pferdes aus, dafür aber weniger auf die Zunge.
Doppelt gebrochene Gebisse ermöglichen eine recht präzise Hilfengebung, da die beiden Seiten beweglicher sind als bei einem Stangen- oder einfach gebrochenem Gebiss.
Weitere Gebisse
Es gibt außerdem Gebisse, die das Pferd zu vermehrtem Kauen anregen sollen, z.B. Gebisse mit Rollen oder Kupfereinlagen, die den Zweck haben, den Speichelfluss zu erhöhen. Zungenstrecker (auch Löffeltrense genannt) sollen verhindern, dass das Pferd seine Zunge nicht über das Gebiss legen kann, um sich so den Zügelhilfen zu entziehen. Aber hier ist Vorsicht geboten: Streckt dein Pferd die Zunge über das Gebiss oder zur Seite aus dem Maul heraus, dann tut es das meistens, weil es Schmerzen hat! Es daran zu hindern, sich den Schmerzen entziehen zu wollen, ist also nicht die Lösung des Problems. Auf der anderen Seite gibt auch Gebisse, die für zusätzliche Zungenfreiheit sorgen sollen. Diese haben wiederum den Nachteil, dass statt auf die Zunge, mehr Druck auf die Kinnlade ausgeübt wird. Das Mundstück ist hier im Bereich der Zunge gebogen. Dieser Bereich ist jedoch oft zu schmal, sodass die Zunge nicht ausreichend Platz hat.
Außerdem sollte man sich der Tatsache bewusst sein, dass je dünner das Mundstück ist, desto schärfer ist es. Der Bereich, auf den Druck ausgeübt wird, ist kleiner, daher wird der Druck umso intensiver wahrgenommen. An dieser Stelle ein bisschen Physik: Druck = Kraft / Fläche. Um den Druck zu senken, muss also entweder weniger Kraft aufgewendet oder die Fläche vergrößert werden.
Bei gedrehten Gebissen mit (mehr oder weniger) scharfen Kanten kann die Schärfe und die Wirkung auf das Pferdemaul wirklich extrem sein… 😱
Und was hat es mit der Form der Trensenringe auf sich?
Je nach Gebiss sind die Gebissringe beweglich oder nicht.
Sind sie nicht beweglich, wie bei der Olivenkopftrense oder der D-Trense, dann ist die Latenzzeit zwischen der Zügelhilfe des Reiters und dem Effekt auf das Pferdemaul sehr gering. Daher ist die Hilfengebung mit diesen Gebissen sehr präzise.
Auch die Form des Trensenrings selbst (z. B. die D-Trense, die Schenkeltrense / Knebeltrense oder die Halbknebeltrense) spielt eine Rolle und beeinflusst, wie einfach sich das Pferd dirigieren lässt. Je größer der Trensenring (bzw. das „D” der D-Trense oder die „Schenkel bzw. Knebel” Schenkeltrense), desto mehr verteilt sich die vom Reiter durch den Zügelzug ausgeübte Kraft auf das Maul und desto sanfter ist daher die Wirkung.
Bei der Halbknebeltrense ist der Knebel flach, wodurch die Wirkung durch die Hand abgemildert wird (größere Fläche, also sanftere Wirkung). Vielleicht hast du dir auch (genau wie ich) schon öfter die Frage gestellt, wozu die Knebel überhaupt gut sein sollen: Zeigen die Schenkel nach unten, verhindern sie lediglich das Herausrutschen des Mundstück aus dem Pferdemaul. Zeigen die Knebel nach oben, haben sie die gleiche Funktion wie eine Knebeltrense.
Hat ein Gebiss mehrere Ringe, dann ist das nochmal einen andere Geschichte.
Und die komplexeren Gebisse, wie das Pessoa oder das Pelham?
Die entscheidende Frage bei diesen Gebissen ist folgende: Gibt es eine Kinnkette oder nicht?
Zäumung ohne Kinnkette
Bei Zäumungen ohne Kinnkette (z. B. Pessoa, Baucher) bewegt sich der obere Trensenring (an dem der Trensenzaum befestigt ist) durch den Zügelzug des Reiters nach vorne. Es wird also Druck auf das Genick ausgeübt, wodurch das Pferd nachgibt. Das Mundstück wird außerdem im Mund nach oben gezogen und wirkt daher auf die Maulwinkel. Es hat also eine aufrichtende Wirkung.
Dieser Effekt ist umso stärker, je größer der Trensenring ist und je länger der „Stab” ist, der nach oben führt. Denn je länger er ist, desto weiter wird das Mundstück nach oben gezogen und desto stärker ist die Wirkung auf das Genick.
Zäumungen mit Kinnkette
Auch wenn bei einer Zäumung mit Kinnkette (z. B. Pelham, L’Hotte) der obere Trensenring nach oben gezogen wird und somit Druck auf das Genick ausübt, liegt der grundlegende Unterschied darin, dass das Mundstück sich nicht nach oben bewegen kann, da der Hebelpunkt die Kinnkette ist. Stattdessen drückt das Mundstück auf die Kinnlade und die Kinnkette übt Druck auf den Knochen und den Nerv des Unterkiefers aus. Das Pferd hat also keine andere Wahl. Es muss also den Winkel zwischen Kopf und Hals verringern, um dieser enormen Kraft nachzugeben. Die Kinnkette führt also dazu, dass das Pferd seinen Kopf senkt.
Je mehr durch das Annehmen der Zügel der Kopf gesenkt wird (also je länger der Stab), desto stärker ist die Wirkung. Eine Kinnkette sollte generell so eingestellt sein, dass sie nachgibt, sobald der Stab und das Maul einen Winkel von 45° Grad bilden.
Was bewirken die verschiedenen Materialien?
Es gibt Mundstücke aus vielen verschiedenen Materialien. Edelstahl, Kupfer, Kautschuk, Harz…
Was man auf jeden Fall wissen sollte:
- schwarzer Kautschuk kann zu Verbrennungen führen (er erwärmt sich durch Reibung)
- (Kunst-)Harz nutzt sich schnell ab und kann zur Verletzung der Schleimhäute führen
- Leder ist oft zu dick und die Nähte können für das Pferd unangenehm sein. Außerdem ist es chemisch behandelt. Nicht gerade optimal…
- Kupfer (niemals alleiniger Bestandteil eines Mundstücks) soll den Speichelfluss des Pferdes anregen und es zum Kauen motivieren
- generell sind Legierungen oft angenehmer für das Pferd, einige sind besonders wärmebeständig und andere sind besonders leicht
Ein kleiner Tipp: Wenn es draußen kalt ist, solltest du nicht vergessen, das Mundstück anzuwärmen, bevor du dein Pferd auftrenst. Ein eiskaltes Gebiss ☃ ist sehr unangenehm für das Pferd.
Fazit
Die Wahl des Gebisses ist sehr wichtig und man sollte die Neigungen, die Anatomie und auch die Vorlieben seines Pferdes beachten. Manche Gebisse, die als sanft gelten, kommen bei deinem Pferd vielleicht gar nicht gut an. Du solltest beachte, dass ein schärferes, aber passendes und gut sitzendes Gebiss von deinem Pferd oft besser angenommen wird, als ein „sanfteres” Gebiss, das ihm nicht richtig passt. Auch die Zäumung hat einen großen Einfluss darauf, ob das Pferd sich beim Reiten entspannen kann oder nicht. Solltest du dir unsicher sein, dann solltest du dir einen Bitfitter zu Hilfe holen, denn es ist ihr Beruf, dir bei der Wahl des richtigen Gebisses für dein Pferd zu helfen! Dabei berücksichtigen sie das Alter, das Niveau und die Disziplin von Pferd und Reiter, mit dem Ziel, dass du nicht in den Teufelskreis von immer und immer schärfer werdenden Gebissen gerätst.
Ein Gebiss ist sanft, wenn es an die Neigungen und die Anatomie des Pferdes und an die Zügelführung des Reiters angepasst ist.
Das Problem mit der harten Hand
Die Anpassung ist wichtig, die Art des Mundstücks ist wichtig, das Material ist wichtig, und die Zügelführung natürlich auch. Eine Studie zeigt: Ist die Spannung auf den Zügeln zu hoch, kommt es häufig zu Fehlverhalten (Zähneknirschen, Zunge über dem Gebiss, Zungen aus dem Maul herausgestreckt…), das sich, selbst wenn man das Gebiss auswechselt, immer weiter verschlimmert (Manfredi et al., 2010). Sollte dein Pferd also sein Maul aufreißen oder mit den Zähnen knirschen, oder sonst irgendwie versuchen, sich gegen das Gebiss oder die Zäumung zu wehren, dann solltest du als Reiter dir folgende Fragen stellen: Passt das Mundstück bzw. die Trense meinem Pferd? Entstehen Druckstellen? Hat es Schmerzen? Und vor allem: Habe ich eine harte Hand?
Weiterlesen: Finde heraus, ob du eine harte Hand hast
Sollte also das Gebiss nicht gut im Maul liegen oder einfach nicht für das Pferd geeignet sein, dann bringt es nichts, die Zäumung einfach enger zu verschnallen oder einen Sperrriemen anzubringen. Und man sollte immer bedenken: Scharfes Gebiss, weiche Hand. Weiches Gebiss… ebenfalls weiche Hand!
„Dadurch, dass wir so viele künstliche Hilfsmittel haben, um das Pferd zu dirigieren, ist es uns kaum noch möglich, ihm zuzuhören. Denn wie sollen wir hören, was es uns mitteilen will, wenn wir es vorher zum Schweigen gebracht haben?” Général d’Aure.
Camille Saute
R&D-Managerin bei Equisense
Wie sieht es mit den Wirkunsweisen aus? Ich meine mich zu erinnern, dass eine Wassertrense mehr zur Grundausbildung benutzt wird wg der Biegung, die Kandarre (eigentlich nur als einhändig erfunden worden wg der nötigen Ruhe) mehr für die Aufrichtung.
Hallo Laura,
wenn du dir unsicher bist, frage am besten einmal bei deinem Reitlehrer nach. Der kann dir sicherlich genaue Auskünfte zu deiner Situation geben.
Da wird es bestimmt auch abweichende Meinungen geben.
Liebe Grüße
Sina